Bevor ich den Goldenen Krug verlies, drückte mir Marcus noch einige Münzen in die Hand. „Für den Fall der Fälle und gib sie mir einfach zurück, bevor du Tarcania verlässt.“ Ich war so dankbar, dass ich hier so schnell einen Freund gefunden hatte.

Ich verliess den Goldenen Krug und lief durch die Gassen. Marcus hat gemeint, dass ich die Gilde schon finden würde, solange ich einfach bergauf gehen würde. Auf dem höchsten Punkt der Stadt wäre ein kleiner Park und dort würde ich ein imposantes Tor sehen.

Nun gut, also folgte ich den Strassen, an schmucken Fachwerkhäusern und kleinen Steinhäusern vorbei, an Ständen mit Stoffen, Obst, Gemüse, Töpfen, Geschirr, Tand und immer wieder sah ich auch Tarot-Karten auf den Tischen liegen.
Die Menschen waren ganz unterschiedlich gekleidet. Manche erinnerten mich an die Orientalen in Damaskus, das ich erst vor kurzem verlassen hatte, manche wirkten, als ob sie gerade aus Indien gekommen wären, andere waren in leichte, fliessende Gewänder gekleidet.
Wenn man mich gefragt hätte, dann hätte ich gesagt, dass sie aus aller Herren Länder kämen, aber ich war ja nicht in meiner Welt.

Ich musste mich wirklich zusammenreissen, um weiterzugehen, denn ich liebte es, durch Märkte und Strassenstände in fremden Ländern zu streifen und alles genau zu betrachten.

Egal, ob ich in Ceylon, Indien, Nepal oder in Siam war, Märkte faszinierten mich, denn dort spielte sich das Leben ab. Ich genoss es, exotische Speisen zu probieren oder einfach auch zu sehen, was die Menschen kauften, was sie mochten, was sie zum Leben oder zum Genuss brauchten.

Nach einer Weile kam ich endlich im Herzen von Tarcania an und stand vor dem Tor der Gilde.

Ich war sprachlos, denn das Tor war im Art Deco-Stil, einem Kunststil, der gerade in Europa, aber auch in Übersee, unglaublich populär war. Und nun sah ich dieses wunderschöne Tor hier in Tarcania! Es war wahrlich ein magischer Ort!

Tor

Staunend schritt ich durch das Tor und ging auf das Gilde-Haus zu.

Ich zog an einem Bronzeknauf und hörte in der Ferne ein leises Läuten. Einige Augenblicke später öffnete ein Mädchen, nur ein wenig jünger als ich, die schwere Holztür und lächelte.

Ich lächelte ebenfalls und war nicht wirklich verblüfft, als sie meinte „Du musst Bobbie sein, Marcus hat dich geschickt, nicht wahr?“ Langsam fing ich an, mich daran zu gewöhnen, dass Tarcania sehr speziell war.

Sie trat zur Seite und bat mich hinein. „Ich bin Sereina, “ stellte sie sich vor und drehte sich um. Ich folgte ihr eine geschwungene Treppe hinauf bis vor eine schlichte Holztür. „Leonora, die Gilde-Meisterin, erwartet dich bereits“, flüsterte Sereina und öffnete die Tür.

Ich trat ein und mein Blick fiel auf eine wunderschöne Frau. Die Gilde-Meisterin hatte ich mir deutlich älter vorgestellt und ich musste innerlich grinsen. Ja, auch ich bin manchmal voller Vorurteile und das, obwohl ich schon so viel gesehen und erlebt habe.

Leonora saß an einem Tisch, vor ihr etliche Tarot-Karten, und sie betrachtete versunken eine der Karten.

Ich blieb stehen und wartete ab, was passieren würde. Sie war immerhin die Gilde-Meisterin und da erschien es mir angemessen, zu schweigen, bis sie das Wort an mich richtete.

Gilde-Meisterin Leonora

Nach wenigen Atemzügen blickte sie auf und sah mir mit ihren violetten Augen direkt in die Seele. Ich spürte ihre Weisheit, ihre Stärke, ihre Willenskraft, aber auch ihre Hingabe für ihre Aufgabe, Mitgefühl und Liebe.

„Wir haben schon lange auf dich gewartet, Roberta, und nun ist endlich die Zeit gekommen“, sprach sie mit einer warmen, dunklen Stimme. „Ich bin Leonora, die Gilde-Meisterin, aber das weißt du ja bereits. Meine Aufgabe ist es, dich die Grundlagen des Tarot zu lehren und dich auf deine Reise durch Tarcania vorzubereiten.“

Reise? Jetzt wurde ich hellhörig! Ich wollte doch eigentlich nur ein paar Tage hier verbringen, meine Libelle reparieren und wieder nach Hause fliegen. Und jetzt sollte ich durch Tarcania reisen? Nicht, dass es mich nicht gereizt hätte, denn ich liebe es, neue, fremde, exotische Länder zu entdecken, aber ich war hin und her gerissen.

Ich war gefangen in einem Land zwischen den Dimensionen und war auf die Hilfe der Tarcanier angewiesen. Leonora war zweifellos eine einflussreiche Frau und sie konnte mir bestimmt helfen. Aber jetzt sprach sie davon, dass ich durch Tarcania reisen sollte.

Ich holte tief Luft, doch bevor ich etwas sagen konnte, unterbrach sie mich. „Ich weiß, was du sagen willst, aber sei unbesorgt. Hier in Tarcania vergeht die Zeit anders als in deiner Welt. Du hast hier eine Aufgabe und wenn du sie erfüllt hast, dann wirst du zurückkehren und es wird so sein, als ob du direkt nach deinem Start von Damaskus nach Hause geflogen wärst. Doch du wirst eine andere sein, wenn du Tarcania erfahren hast.“

Aha. Ich schien also keine Wahl zu haben, doch ich wollte noch etwas sagen, aber auch hier unterbrach mich Leonora mit ihrem Blick. Ich schloss meinen Mund und hörte einfach weiter zu.

„Du wirst hier ein Zimmer in der Gilde beziehen. Ich lasse deine wenigen Sachen aus dem Goldenen Krug herbringen. Sereina wird dir dein Zimmer zeigen. Heute kannst du dich noch in der Stadt umschauen, aber morgen kommst du wieder zu mir, wenn die Glocken neun Mal läuten. Dann werde ich dir deine erste Aufgabe stellen und dein Unterricht wird beginnen.“

Mit diesen Worten wandte sie sich ab und vertiefte sich wieder in die Karten.

Ich war entlassen und verliess den Raum mit einem Gefühl, das zwischen Vorfreude auf die kommenden Abenteuer und einem flauen Gefühl schwankte.

Roberta. So nannte mich nur meine Mutter, wenn ich etwas angestellt hatte oder sie aus irgendeinem Grund auf mich wütend war. Das würde sicher interessant werden…

Ich stand vor Leonoras Raum und Sereina tauchte wieder auf. Sie grinste und meinte „Leonora ist etwas Besonderes und wenn du sie das erste Mal siehst, dann kann sie ganz schön einschüchtern, nicht war? Aber mach dir nichts daraus, das ging uns allen so. Hier in der Gilde wird es dir gefallen. Du kannst dich im ganzen Haus frei bewegen, also fühle dich wie Zuhause.

Morgen wird dein Unterricht beginnen und sei pünktlich. Leonora verzeiht keine mangelnde Disziplin. Man könnte meinen, sie wäre eine Schwester der Hohepriesterin. Du musst dir ihr Vertrauen und ihren Respekt verdienen, dann wirst du viel von ihr lernen können und vielleicht lässt sie dich hinter den Schleier blicken.

Nutze heute noch den Tag, um dich in Tarcania umzuschauen, denn ab Morgen wirst du nicht viel Zeit haben, bis du zu deiner Reise aufbrichst.“

Schwester der Hohepriesterin? Ja, da war durchaus eine gewisse Ähnlichkeit vorhanden. Ich war auf jeden Fall auf meinen zweiten Besuch bei ihr gespannt.

Hohepriesterin

Ich folgte Sereina durch die Flure der Gilde, einige Treppen hinauf und hinunter, durch kleine Innenhöfe und frage mich, wie in aller Welt ich mich hier je zurecht finden und vor allem, wie ich wieder Leonoras Zimmer wiederfinden sollte.

Aber ich bin weder im Gewirr des Khan El-Khalili noch im Suq von Damaskus verloren gegangen, also würde ich auch morgen pünktlich sein, beruhigte ich mich.

Endlich blieb Sereina vor einer Holztür stehen und lächelte. „Das ist jetzt dein Zuhause, solange du in Tarcania bist. Bei Sonnenuntergang treffen wir uns im Speisesaal und bis dahin wünsche ich dir eine gute Zeit.“ Mit diesen Worten verschwand sie.

Ich öffnete die schwere Holztüre und trat in mein Zimmer ein.

Gildezimmer

Der Raum wurde von einem riesigen Spiegel beherrscht und ich kam mir ein wenig beobachtet vor. Aber ich würde mich schon daran gewöhnen.

Das Zimmer machte mit einer gemütlichen Ecke am Fenster, einem grossen Bett mit vielen Kissen und Decken, einem Tisch mit Obst und einer Wasserkaraffe sowie einem bequemen Sessel einen einladenden Eindruck. Ich hätte es wahrlich schlimmer treffen können!

Auf dem Bett lag saubere Kleidung und so zog ich mich um, froh, mich endlich aus meinen verschwitzten und schmutzigen Sachen zu schälen, denn nach meinem Absturz hatte ich keine Gelegenheit gehabt, mir etwas Frisches anzuziehen.

Und nun wollte ich endlich die Stadt in Ruhe erkunden.

Anmerkung von Ivana:

Bobbies Tage in der Gilde waren für mich Inspiration, im Oktober 2023 meine eigene Tarot-Gilde zu gründen. Ein wenig fühle ich mich hier Leonora verbunden, auch wenn wir in der Gilde auf Augenhöhe sind, aber ich geniesse die Gilde-Abende, wenn wir in die Karten eintauchen. Wenn du willst, kannst du gern in die Gilde kommen und ein wenig in Tarcania und die Magie der Karten eintauchen.

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Hinweis: Rider-Waite-Smith-Deck, gemeinfrei, weil die urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist.

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